Puh, waren ja einige Antworten:
1. DocTiger
Schon wieder dieses Vorurteil es gäbe sowas wie komplexen und nicht so komplexen Stoff. Was macht denn bitte einen Stoff Komplex? Ein Aha-Effekt ist nett, führt aber nicht zu bestandenen Prüfungen. Die vielgerühmten "Quererbindungen", die anscheinend sowieso entweder jeder ohne Mühe wahrnimmt oder in Hausaufgaben abgefragt werden oder, weil sie eben keiner zuverlässig sieht einfach im Skript stehen sind also Details wie alles andere auch. Da sie aber Details sind, und das Gehirn niemals den Verständnismodus ausschalten kann, bringt es nichts, von "linearem", "semilinearen" und "anderem" Stoff unterscheiden.
Ich halte es für eine interessante These, dass jeder Stoff gleich komplex sein soll und letztlich jede Art von Stoff auf Lineares reduziert werden kann, ebenso halte ich sie aber für falsch.
Mag sein, dass man gewisse "Querverbindungen", die von notorischer Stelle ja in einem gewissen Thread viel zu oft "gerühmt" wurden (zum Glück herrscht da jetzt Schweigen), automatisch wahrnimmt. Das Entscheidende ist aber doch, wie man die automatische Wahrnehmung mit der mnemotechnischen Codierung, den gestaltgewordenen Gedanken, so verknüpft, dass die Schnittstelle reibungslos funktioniert. Das meinte ich mit "ingenieurtypischer" Aufgabe bei der Memorierung.
Dass das Gehirn gerade bei "komplexem" Stoff, den man versucht zu stur linear zu memorieren, eben doch den "Verständnismodus" ein wenig ausschaltet, weil man zu verbildlicht und konkretisiert und sich darum von den Abstrakta, der inneren Struktur des Stoffes, entfernt, ist aus meiner Sicht der Grund, weshalb der Mnemotechnik auch von gelehrter Seite wie Hegel oder Kant so vehement entgegengetreten wurde. Wenn man nur den groben Hammer "mache ein Bild und packe es auf einen Ort" hört, am besten noch verbunden mit "mache die Bilder so absurd wie möglich", und es dann so selbst versucht, dann wird man natürlich ob des Ergebnisses nur den Kopf schütteln, weil es in keiner Hinsicht mit der eleganten automatische Assoziationsbildung des Gehirns (dem "normalen" Lernen) mithalten kann. Aber das wäre eben so, als würde man auf die Malerei schimpfen, weil man selbst mit Steicherpinsel auf Tapete nur Geschmiere zustandebringt.
Das muss immer ein Zusammenspiel sein, fein abgestimmt gemäß der Erfahrung.
Dass es natürlich Stoff gibt, den man auch leicht mit der Holzhammermethode hinbekommt, da gebe ich Dir recht. Man sollte aber nicht denken, das die Effektivität des einfachen Vorgehens bei diesem Stoff heißt, dass alles Vorgehen einfach ist. Das wäre so, als würde der "Maler", der gerade eine Wand gestrichen hat, behaupten, mit derselben Technik könnte sein übervorsichtiger Kollege (der eher Dachshaar und Leinwand bevorzugt) doch auch das soeben in Auftrag gegebene Ölporträt des Erzbischofs hinbekommen, und ihm dann den Streicherpinsel in die Hand drückt.
In mathematischen Dingen, sowie auch ihn Physik ist es nicht die "Komplexität", sondern das Ausbilden der Fähigkeiten was die Punkte bringt. Die Details zu lernen fällt gegenüber dem notwendigen Training dieser Fähigkeiten nicht ins Gewicht. Es gibt keine spezielle Lerntechnik für Mathematik, abgesehen von Tricks für viele Formeln, und es kann sie auch nicht geben.
Von diesen beiden Fächern hatte ich nicht gesprochen. Ich habe aber öfter von Boris gehört und gelesen, dass er beim gleichzeitigen Physik- und Informatikstudium die Techniken sehr gewinnbringend eingesetzt hat. Wenigstens teilweise scheint es also auch dort Wege zu geben.
Im Übrigen denke ich, dass Du das Potential der Methode gerade bei der Lösung komplexer mathematischer Probleme unterschätzt. Gerade dort kann sie als Entlastung des Kurzzeitgedächtnisses teilweise wahre Wunder wirken und einen weiter bringen als das bloße Hin- und Herwägen, ständige Neuansetzen und Sich-im-Kreis-drehen.
Dass es anwendbare Techniken gerade in Mathematik "nicht geben kann", klingt ja schon beinahe nach dem Ansatz zu einem "Mnemotechnischen Manifest". Woher die orthodoxe Dogmatik?
Meistens stellt sich raus, dass Stoff der angeblich zu extrem Komplex ist, als dass man ihn linear lernen könnte, einfach nur viel weniger Details hat, als ich sie normalerweise habe.
Ich sehe den Zusammenhang nicht zwischen fehlendem Detailreichtum und der Illusion von Komplexität. Die Art von Stoff, die ich im Sinn habe, hat einen zumindest mittleren Detailreichtum, ist aber nicht linear aufgebaut, so dass ein bloßes geistiges Ablesen von einer Route ohne sonstige Beifügungen nicht ausreicht.
Meine Definition linearen und nichtlinearen Stoffes:
Linearer Stoff ähnelt in seiner Form einer Einkaufsliste. Es ist vollkommen ausreichend, ihn der Reihe nach wiederzugeben, ohne dass von einem Punkt der Reihe auf einen anderen Bezug genommen werden muss. Beispiele sind längere Listen von Proteinen, Ereignisse in einer Schlacht, Unterpunkte eines Friedensvertrages, Vokabeln und grammatikalische Reihen wie Konjugationen und Deklinationen, Kochzutaten und Materialbestandteile.
Linearer Stoff hat viele Elemente und wenig Verbindungen zwischen den Elementen.
Linearer Stoff kann von jemandem, der davon nichts versteht, aber ihn lediglich aus dem entsprechenden Buch abliest, genauso gut wiedergegeben werden wie von einem Experten bzw. von jemandem, der den Stoff mnemotechisch aufbereitet hat. Linearer Stoff ist "glatt", d. h. er hat keine über die Zeilen des Buches hinausgehende relevante innere Struktur, die zu seiner adäquaten Wiedergabe und Anwendung nötig ist. Er ist wie ein Seil, an dem entlang man hinaufgelangt. Es ist eindimensional, aber für seinen Zweck ausreichend.
Komplexer Stoff ähnelt in seiner Form einem Netz, dem Aderwerk eines Organs wie der Leber, dem Blätter- und Lianenwerk eines Urwalds, einem Kristallgitter. Beispiele wären Beweggründe für historische Geschehnisse aus der Motivation der Beteiligten heraus (ohne dass dies zuvor linear vorgegeben gewesen wäre), die Handlungsstruktur eines Buches unter Berücksichtigung der Beeinflussung einzelner Ereignisse durch vorherige und dazu das Darstellen von analogen Aufbaumustern unterschiedlicher Geschehnisse innerhalb der Handlung, die Beeinflussung der unterschiedlichen juristischen Anspruchsgrundlagen untereinander und die jeweiligen Aussschlüsse (dazu jeweils vergleichende Wertung der zugrundeliegenden Ideen zur Analogiebildung), ein philosophisches Werk mit einem weitreichenden Überbau wie die Werke von Kant (aus dem Werk soll exakt, aber auch assoziativ zitiert und das Werk in seiner Gesamtstruktur erfasst werden, so dass schnell und treffend Vergleiche zwischen einzelnen Kapiteln aufgezeigt, die jeweiligen Ideen dargestellt und ein Gesamtthema gesehen werden kann), ein Nachvollziehen der Ideen des Langlands-Programms im Einzelnen, eine Symphonie von Beethoven mit ihren verschiedenen thematischen Bezügen.
Komplexer Stoff hat neben den Elementen auch Verbindungen der Elemente untereinander, die den Stoff mitkonstituieren.
Komplexer Stoff kann von jemandem, der das entsprechende Buch vor sich liegen hat, nicht so gut wiedergegeben werden wie einem Experten bzw. jemandem, der ihn adäquat mnemotechnisch aufbereitet hat. Komplexer Stoff ist "gefaltet", d. h. über die Zeilen des Buches hinaus hat er in sich noch vielfache Bezüge und Wege, er ist also ein Netz. Wer nur aus dem Buch liest, hat nur den äußeren Rand des Netzes (den "Ring"), aber keine Fäden (das "Netz selbst"). Komplexer Stoff ist wegen der Verbindungen in seiner Struktur zumindest zweidimensional, wenn nicht (falls aus dem Netz eine Halbkugel oder Kugel wird) dreidimensional.
Derjenige der glaubt, einen komplexen Stoff zu haben meint meistens, es müsste eine effizientere Methode geben (die bislang nie vorgestellt wurde) ...
Auf glauben und meinen läuft es ja immer hinaus. Und ich meine gerade daraus, dass nicht alle dasselbe glauben, ergibt sich erst Wissen.
2. Andi
Sollte dies nicht der Fall sein, kann eine etwaige Querverbindung die von eminenter Wichtigkeit ist, ebenfalls mnemonisch abgespeichert werden, jedoch ist sie dann noch eine Querverbindung? Wohl eher nicht, sondern eher ein Lineares oder Semilineares Stoffgebilde.
Je mehr ein Wissensnetz angelegt, bearbeitet, überdacht wurde, desto mehr Assoziationsmöglichkeiten (oder man könnte es auch Querverbindungen nennen) stehen dem Lernenden zur Verfügung, egal ob das Ausgangslernmaterial mit Mnemotechnik aufgearbeitet wurde oder nicht. Mit Mnemotechnik geht es halt, wie du richtig schreibst, um einiges schneller (90 %?!).
Du hast recht, aber gerade dort liegt das Problem: Wie bildest Du Verbindungen zwischen den Elementen innerhalb eines mnemotechnischen Raumes effizient ab, wenn sie ein gewisses kritisches Maß überschreiten?
Auch das mit dem Wissensnetz trifft zu, aber es gibt viele Fälle, in denen man nicht einfach lullistisch aus der "Tabelle" die guten Kombinationen herausfiltern kann, sondern man benötigt gerade auch die Verbindungen bereits vorher, um weiterzugehen.
Übrigens: Nicht 90 % schneller, sondern schneller als 90 %.
3. pisco
Also meine Meinung ist Fächer wie Jus oder eine Sprache, die zu größten Teil nur aus auswendig lernen besteht, kann man mit Mnemotechnik sicherlich schlagen ,jedoch für Mathe so wie ich selbst es hab ,hab ich noch kein Patentrezept gefunden.
Dann ist Dein Jus (ich nehme an, Du beziehst Dich auf Österreich) anders als unser Jura. Mit bloßem Auswendiglernen kommt man in Jura über einen bestimmten Punkt nicht hinaus. Das gilt natürlich noch weitaus mehr für Mathematik oder Physik.
Jedoch ist das der Sinn von Mathe?
Denn manche Beispiele versteh ich ned und kann sie vom Weg nur auswendig, sie stimmen zwar aber ich versteh nicht die Hintergründe usw.
Mnemotechnik ist nicht primär eine Verständnistechnik, sondern eine Informationsverarbeitungstechnik. Neues Verständnis kann in der Mnemotechnik erst durch eine bereits von Verständnis geprägte Codierung der Inhalte erfolgen, weil so bereits die gut verstandenen Ausgangsstrukturen bildlich nachvollzogen werden und man in der Codierung, indem man sich mit ihr vertraut macht, neue Muster, Gemeinsamkeiten und Analogien sieht, die zum Verständnis weitergehender Zusammenhänge führen können und einen Bogen zu neuen abstrakten Konzepten aus benachbarten Gebieten schlagen.
Wenn Du das Gefühl hast, dass Dir jegliches Grundverständnis fehlt, dann muss dieses erst noch geschaffen werden, sonst kann Dir Mnemotechnik nur den so eingeschränkten Nutzen bringen, den sie Dir jetzt gibt: Lineare Wiedergaben der Aufgaben aus Deinem Buch. Mathematik ist aber keine Einkaufsliste.